Und täglich grüßt die Sozialstudie, von einem der den Arbeitsweg jeden Tag neu genießt

Ich erlebe jeden Tag ein Abenteuer, meinen Arbeitsweg. Ich erlebe die sicher eher seltene Konstruktion alle Berliner ÖPNV-Verkehrsmittel nutzen zu dürfen. Bus, U-Bahn, S-Bahn und Tram. Und jedes hat einen Charme, das weiß ich nun schon so langsam.

Mein Arbeitsweg beginnt gegen 5 Uhr morgens, also zu einer derart unchristlichen Zeit, das es jedem der es erzählt bekommt schon von der Schilderung graut. Da es mich genauso graut wird mein gesamter Weg von Musik und meinem zusammengestellten Soundtrack untermalt. Da ich durch diese Abtrennung keine Gespräche höre, bin ich darauf angewiesen die Verhaltensweisen der Menschen zu studieren.

Im Bus geht es schon los, denn eine optimale Zeit zur Arbeit erreiche ich nur, wenn alle Verkehrsmittel ihrem Plan entsprechend ankommen. Das geht schon morgens beim ersten Bus schief. Auch wenn sich mir nicht erschließt wie man um 5 Uhr morgens, bei geringstem Verkehrsaufkommen, Verspätungen erzeugen kann, der Bus schafft es regelmäßig. Das sorgt dafür das ich auf meine höchst empathische Art dem Busfahrer schonmal non-verbal mein Mißfallen übermittle. Das trifft erfahrungsgemäß auf viel Gegenliebe. Mein persönlicher Tip: Wenn der Bus anrollt sollten Sie unbedingt demonstrativ auf ihre Uhr sehen und , sobald sie den Bus besteigen nochmal auf die Uhr schauen und ohne aufzusehen den Kopf schütteln. Sie glauben das macht dem Fahrer nichts aus? Glauben Sie mir, ich kenne BVG-Busfahrer, dass ist eines der Dinge die garantiert nicht gemocht, und immer bemerkt, werden. Im Bus dann eine Ansammlung von nicht sonderlich Ausgeschlafenen Menschen die notdürftig im Sitz hängen und sich schon darauf konzentrieren müssen den Ausstieg nicht zu verpassen.

Doch steigt man in die U-Bahn um, ist man immer wieder erstaunt wie die eben noch lethargisch im Sitz hängenden Menschen zum Rammbock an der Bustür werden. Kaum ausgestiegen scheinen sie 7-Meilen-Stiefel zu bekommen, denn es wird ein Schritt aufgenommen bei dem ein olympischer Geher schlapp machen würde. Einen ähnlich schnellen Schritt erreichen Sie nochmal beim Betreten der U-Bahn, Ziel diesmal: einen adäquaten Platz erreichen, es könnte ja sein man müsse die 5-7 Stationen im Stehen verbringen, wobei man vollständig aufwachen würde, das wäre unerträglich. Im Waggon der Untergrundbahn findet täglich das Clubtreffen der Smartphone-, eBook- und Tablet-User statt. Ein Beschäftigung-Screen reiht sich an den nächsten. Der Mensch wird, weil er sich stets zu einem Gerät hinunter orientiert, irgendwann evolutionär wieder den Rückenbau des Neandertalers haben. Naja, mit einem krummen Rücken ist der Kopf dann immer in iPad-tauglicher Position. Der homo-TABLETius wäre geboren, Vorstufen hierzu besichtigen sie bitte im naturkundlichen Teil des öffentlichen Nahverkehrs. Aber der homo-tabletius wird vornehmlich männlich sein, denn die uns Männern kommunikativ überlegene Frau bringt oft eine gleichgeschlechtliche Partnerin mit, oder trifft sie auf dem Weg zur Arbeit, und hat somit ein Gegenüber für die Sprachkommunikation parat. Jedoch, sollte am Ausspruch "Frauen und Technik" auch nur ein Fünkchen Wahrheit stecken, bleibt der Frau auch nix anderes übrig als zu reden.

Am großen Umsteigebahnhof versorge ich mit vermeindlich frischen Backwaren. Diese Backwaren erwerbe ich beim Systembäcker und hoffe auf Frische der Ware, zumeist vergeblich. Aber zu dieser Zeit ist die Auswahl an geöffneten Bäckereien begrenzt, und Verfügbarkeit siegt über Stolz. Aber auch findet der Wettbewerb "Wer bekommt die schönste System-Teig-Knolle", bei RTL hieße das demnach WBDSSTK, also der Run auf das beste Teigprodukt statt. Sobald ich mich an der Bäckerei meiner Wahl anstelle, entferne ich kurz die In-Ear-Kopfhörer aus den Ohren und erlebe nun erstmalig auf der Fahrt den Real-Life-Sound eines Berliner Umsteigebahnhofs. Da sich dieses Erlebnis nicht so lohnt wie man gemeinhin meint, bin ich froh nach dem Kauf der Teigwaren wieder meinen Wege-Soundtrack fortsetzen zu können. Aber auch das Bahnhofsambiente kann einen nachdenklich machen und Fragen aufwerfen.
Warum sortiert der asiatische Blumenhändler morgens um kurz vor 6 seine Ware? Wann macht der denn auf? Ist es wirklich in irgendeiner Form witzig einer Person auf einem Plakat ein Hitlerbärtchen anzumalen? Warum entledigen sich die Menschen ihrer Notdurft im Bahnhofsgang, obwohl 10m weiter ein Bäumchen wäre?

Lustig ist, dass auf die Plätze in einer Tram nicht so ein Run stattfindet, den Weg zu Tram nehmen die Menschen entspannter. Ich bin ja nicht der einzige, der in den öffentlichen Verkehrsmitteln Musik hört, aber augenscheinlich einer der wenigen bei dem nicht diese riesig-bunten "beats"-Kopfhörer über dem Zerebrum thronen.

Fährt man immer zur selben Zeit, fährt man auch immer mit den gleichen Menschen. Das es Menschen gibt die sich jeden Tag etwas zu erzählen haben fasziniert mich. Gut, manchmal macht der eine oder andere ein gequältes Gesicht, wahrscheinlich weil in das besprochene Thema nervt. Aber meist wird sich durch das Gespräch gekämpft. Kurz vor den Wochenenden besteigen auf immer Menschen die Tram die nächtlich durchgezecht haben. Ich frage mich dann immer ob und wie die arbeiten, aber ich bin auch neidisch auf deren Freiheit zu dieser Zeit unterwegs sein zu können ohne wie ich, auf dem Weg zur Arbeit zu sein.

Am Nachmittag wiederholt sich dieser Spaß, nur mit deutlich gefüllteren Waggons. Enge ist angesagt, es sei den es sind Ferien. Nah rückt einem der Mitmensch, oft zu nah für meinen Geschmack. Besondere Freude kommt in mir auf, sobald sich jemand sein geruchsfreudiges Essen, also einen Döner oder so, mitbringt. Dann haben alle was davon das der-/diejenige (demnächst werde ich den Begriff unisex-gerecht in "es" ändern) bei der Bestellung dachte:" Knoblauchsauce? Wenn ich es esse, rieche ich es ja nicht...". Immer diese Geruchssinn-Vergewaltiger.

Trotdem mag ich die Abwechslungen die mir die Bahn bietet, z.B. von einen Obdachlosen-Pärchen, mit samt ihrer Hunde, die dem U-Bahn-Wagen so einen betörenden Geruch verpaßt haben, dass der Sarin-Gas-Angriff in der U-Bahn von Tokio als Fermentierung durchgeht. Oder der Typ der in sein Handy meckert, und ich trotz aller Mühe kein normal geführtes Gespräch erkennen kann. Am besten ist es wenn sich Jugendlich in ihrem Slang unterhalten, ich meine die sprechen meine Sprache, aber die Aneinanderreihung der Worte und deren Betonung ergeben in meinem Ohren keinen Sinn, auch wenn ich mir größte Mühe bei der Kompilierung gebe.

Egal, mit 40 bin ich eben ein alter Sack, das muß ich einsehen. Also fahre ich weiter und höre einfach "Es fährt ein Zug nach Nirgendwo" Das paßt dann auch altersmäßig.

MG 03/2013


Beliebte Posts aus diesem Blog

Brot und Spiele oder warum Fake im TV so gut ankommt

Schaltet endlich Twitter ab! (1) Die Einführung

Pedelecs, Freygeist und die von Whingwheels